Die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes weist alle Straftaten als Verdachtsfälle eines jeden Jahres aus. Diese Zahlen sind nur die bekannt gewordenen Fälle, das sog. Hellfeld. Es gibt in vielen Deliktsbereichen ein mehr oder weniger großes Dunkelfeld, die nicht entdeckten Straftaten.
Am 18. April 2023 berichtete der Berliner Tagesspiegel:
„Die Berliner Staatsanwaltschaft hat zwei Ärzte wegen tausendfachen Betrugs angeklagt – es dürfte sich um eines der größten Strafverfahren in der Medizinerzunft der Hauptstadt handeln. Der Anklage zufolge hatten betroffene Patienten angenommen, sie seien aufwendig untersucht und mitunter operiert worden, insbesondere an der Speiseröhre. Und tatsächlich wurden die Patienten unter Vollnarkose gesetzt – allerdings offenbar ohne, dass das medizinisch geboten gewesen sei. Nach jahrelangen Ermittlungen lautet die Anklage: gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung in 1052 Fällen sowie banden- und gewerbsmäßiger Betrug in 1764 Fällen.
Hunderte Patienten waren demnach Opfer dieses Vorgehens, oft wurden die Betroffenen für mehrere, angeblich erforderliche Termine in die Schöneberger Praxis bestellt. Die Mediziner, die heute nicht mehr tätig sind, rechneten insgesamt circa 1000 angebliche Eingriffe ab. Viele der Patienten waren privat versichert, Schadenssumme etwa 1,1 Millionen Euro. Die laut Anklage in betrügerischer Absicht erstellte Fehldiagnose lautete meist: Barrett-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine Gewebeveränderung infolge einer chronischen Refluxerkrankung, die als Krebsvorstufe gilt.“
Arzt- und medizinstrafrechtliche Fälle sind tatsächlich und rechtlich kompliziert. Sie verlangen bereits zu einem frühen Zeitpunkt des Strafverfahrens anwaltlichen Beistand. Der Abrechnungsbetrug nach § 263 StGB macht einen Großteil der Fälle im Medizin- und Arztstrafrecht aus. Der Abrechnungsbetrug ist die finanzielle Abrechnung nicht oder nicht ausreichend erbrachter ärztlicher Leistungen. Mit dem Begriff des Abrechnungsbetruges werden alle Begehungsformen des Betrugs im Bereich des Gesundheitswesens erfasst, bei denen Krankenhäuser, Ärzte oder Ärztinnen, Zahnärzte oder Zahnärztinnen oder andere Leistungserbringer bei der Abrechnung ihrer Vergütung nicht erbrachte oder nicht vollständig erbrachte Leistungen abrechnen.
Privat versichert oder gesetzlich versichert?
Im privatärztlichen Bereich kommt es unmittelbar zu einem Vertragsschluss zwischen dem Arzt oder der Ärztin und dem Patienten oder der Patientin = § 630a BGB. In diesem Verhältnis erfolgt auch die finanzielle Abrechnung der privatärztlichen Leistung. Komplizierter ist das Rechtsverhältnis im vertragsärztlichen Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Es gilt das Rechtsregime des SGB V = Sozialgesetzbuch Buch 5.
§ 72 SGB V Sicherstellung der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung
(1) Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, medizinische Versorgungszentren und Krankenkassen wirken zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung der Versicherten zusammen. Soweit sich die Vorschriften dieses Kapitels auf Ärzte beziehen, gelten sie entsprechend für Zahnärzte, Psychotherapeuten und medizinische Versorgungszentren, sofern nichts Abweichendes bestimmt ist.
(2) Die vertragsärztliche Versorgung ist im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften und der Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses durch schriftliche Verträge der Kassenärztlichen Vereinigungen mit den Verbänden der Krankenkassen so zu regeln, dass eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet ist und die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden.
Das klingt nicht nur rechtlich kompliziert. Es ist es auch rechtlich kompliziert.
Versicherte, also die Patienten und Patientinnen, Ärzte und Ärztinnen, Krankenkassen und dazu die Kassenärztlichen Vereinigungen sind an diesem Rechtsverhältnis der vertragsärztlichen Versorgung beteiligt. Die Krankenkasse entrichtet an die Kassenärztliche Vereinigung eine Gesamtvergütung (§ 85 SGB V). Die Vertragsärzte rechnen ihre ärztlichen Leistungen im Verhältnis zur Kassenärztlichen Vereinigung ab. Diese nimmt eine Wirtschaftlichkeitsprüfung vor.
§ 106a SGB V Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlicher Leistungen
(1) Die Wirtschaftlichkeit der erbrachten ärztlichen Leistungen kann auf begründeten Antrag einer einzelnen Krankenkasse, mehrerer Krankenkassen gemeinsam oder der Kassenärztlichen Vereinigung arztbezogen durch die jeweilige Prüfungsstelle nach § 106 c SGB V geprüft werden. Die Prüfung kann neben dem zur Abrechnung vorgelegten Leistungsvolumen auch Überweisungen sowie sonstige veranlasste ärztliche Leistungen, insbesondere aufwändige medizinisch-technische Leistungen umfassen; honorarwirksame Begrenzungsregelungen haben keinen Einfluss auf die Prüfungen.
Und so kann es immer wieder Streit und gerichtliche Auseinandersetzungen um die Berechtigung der Abrechnung ärztlicher Leistungen geben. Bei einem Verdacht eines Abrechnungsbetrugs stellt sich die strafrechtliche Frage, wer im Fall des § 263 StGB die geschädigte Person ist. Das ist vor allem im vertragsärztlichen System umstritten – die Krankenkasse oder die Kassenärztliche Vereinigung? Der BGH (NJW 2021, 90) sieht die Kassenärztliche Vereinigung als das Betrugsopfer: „Die kassenärztlichen Vereinigungen sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Lage, Vermögen zu bilden. Die von den Krankenkassen übergeleiteten Gesamtvergütungen sind ihnen als eigene zugewiesen. Insoweit ist ihnen ein eigenes Guthaben entstanden.“
Daneben nimmt die Rechtsprechung des BGH (NJW 2016, 3253) an, dass die Vertragsärzte im Verhältnis zur Krankenkasse vermögensbetreuungspflichtig sind, so dass auch der Verdacht der Vertragsarztuntreue nach § 266 StGB gegeben sein kann. Strafrechtlich ist das zweifelhaft – was ist die Hauptpflicht der Ärzte und Ärztinnen? Die Einhaltung der Wirtschaftlichkeit nach § 12 SGB V oder das Patientenwohl? Mit dem Delikt der Untreue nach § 266 StGB berühren sich Medizinstrafrecht und Wirtschaftsstrafrecht. Zwei Rechtsgebiete, in denen sich nicht nur die Strafverfolgungsorgane spezialisieren, sondern auch der Beistand fachlich spezialisierter Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen erforderlich ist.
Dieser knappe Blick auf den medizinstrafrechtlichen Abrechnungsbetrug soll die strafrechtliche und die medizinrechtliche Problematik dieses Rechtsgebiets aufzeigen.
Im Fall eines Verdachts wegen Abrechnungsbetruges drohen im strafprozessualen Ermittlungsverfahren die Durchsuchung der privaten Wohnung und der ärztlichen Praxis und die Beschlagnahme von ärztlichen Unterlagen durch die Staatsanwaltschaft. Bereits das Ermittlungsverfahren ist beruflich und privat eine persönliche und berufliche Belastung. Bereits in diesem frühen Stadium des Strafverfahrens ist anwaltlicher Beistand erforderlich. Es gilt, das Hauptverfahren und eine Hauptverhandlung möglichst zu vermeiden. Die Strafprozessordnung enthält viele Einstellungsmöglichkeiten (§§ 153 ff. StPO). Und im Fall einer nicht zu vermeidenden Hauptverhandlung gilt es, eine optimale Verteidigungsstrategie zu entwerfen, die die Sanktionen möglichst vermeidet oder geringhält.
Neben den strafrechtlichen Folgen sind auch berufsrechtliche und zivilrechtliche Konsequenzen zu beachten. Es drohen die Entziehung der Approbation oder der Verlust der Kassenzulassung. Es drohen zivilrechtliche Schadensersatzforderungen.
Es gilt: Sobald Sie mit dem Verdacht eines Abrechnungsbetrugs oder eines anderen medizinstrafrechtlichen Vorwurfs wie beispielsweise der Korruption im Gesundheitswesen oder der Körperverletzung wegen eines Behandlungsfehlers konfrontiert werden, suchen Sie umgehend anwaltlichen Beistand und Hilfe. Das ist Ihr Recht in jedem Stadium des Strafverfahrens = § 137 StPO.
Wir stehen Ihnen als Strafverteidiger und Strafverteidigerin mit Enthusiasmus und Fachwissen als Beistand jederzeit zur Verfügung.