Der BGH legt in einem Beschluss v. 5.4.2022 – 3 StR 16/22 – die Vorschriften der notwendigen Verteidigung und der Pflichtverteidigerbestellung eng aus. Die Beschuldigte oder der Beschuldigte müssen bei einer polizeilichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren einen Antrag auf die Pflichtverteidigerbestellung stellen. Von Amts wegen erfolgt eine solche nur im Ausnahmefall. Fair ist diese Auslegung nicht.
Der Sachverhalt in Kürze: Dem Angeklagten, der 2014 aus Syrien nach Deutschland geflohen war, wurde der strafrechtliche Vorwurf der Beihilfe zu einem Mord und zu einem Kriegsverbrechen gegen eine Person und der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland – in Syrien – gemacht. Der Angeklagte wurde am 17. Oktober 2019, 20. Februar 2020 und 6. März 2020 als Beschuldigter polizeilich vernommen. Vor den beiden letzten Vernehmungen wurde er – ebenso wie vor der ersten – jeweils belehrt, dass er im Fall der notwendigen Verteidigung die Bestellung eines Pflichtverteidigers »beanspruchen« könne. Im Folgenden äußerte er sich an beiden Tagen unter Einbeziehung eines Dolmetschers, ohne dass ihm zuvor ein Verteidiger bestellt worden oder ein solcher sonst anwesend war. Einer der an den Vernehmungen beteiligten Polizeibeamten wurde in der Hauptverhandlung als Zeuge gehört. Im Anschluss an dessen Aussage widersprach ein Verteidiger deren Verwertung, soweit der Zeuge Angaben über Inhalte der Vernehmungen vom 20. Februar und 6. März 2020 gemacht hatte. Das Oberlandesgericht stützte in den Urteilsgründen seine Kenntnisse von den Angaben des Angeklagten in der Vernehmung am 6. März 2020 auf die Bekundungen des Zeugen.
Die strafprozessuale Rechtsfrage ist, ob die polizeilichen Vernehmungen des damals Beschuldigten rechtsfehlerhaft waren, weil diese ohne eine Strafverteidigerin bzw. ohne einen Strafverteidiger erfolgten.
Der BGH sagt „nein“: „Es stellt keinen Rechtsfehler dar, dass dem Angeklagten als damaligem Beschuldigten nicht unabhängig von einem eigenen Antrag ein Pflichtverteidiger bestellt wurde. Ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 StPO gebietet für sich genommen nicht eine Pflichtverteidigerbestellung nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO. Für die Frage, ob die sofortige Bestellung erforderlich ist, weil ersichtlich ist, dass der Beschuldigte sich selbst nicht verteidigen kann, ist maßgeblich auf dessen individuelle Schutzbedürftigkeit abzustellen.“ Der BGH weiter: „Es bestehen keine Bedenken dagegen, dass die in Rede stehende Gesetzesfassung dem Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung genügt (…). Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die notwendige Mitwirkung und die Bestellung eines Verteidigers stellen sich als Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verfahrensführung dar (…). Der Beschuldigte darf nicht nur Objekt des Verfahrens sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen (…). Diese Gelegenheit erhält er, da er nach entsprechender Belehrung die Bestellung eines Verteidigers beantragen kann.“
Alles klar?
Notwendige Verteidigung? Pflichtverteidiger? Individuelle Schutzbedürftigkeit? §§ 140, 141 StPO? Das klingt rechtlich kompliziert. Und schaut man dann noch auf den strafrechtlichen Vorwurf von Mord, Kriegsverbrechen ua. mit einem Tatort in Syrien, werden Sachverhalt und rechtliche Problematik nicht einfacher.
Rechtliche Würdigung
Jede Person, der ein strafrechtlicher Vorwurf gemacht wird, hat im gesamten Strafverfahren von Anfang bis zum Schluss das Recht auf den Beistand eines Strafverteidigers oder einer Strafverteidigerin. Das gehört zu unserem Rechtsstaat. Das zeigt § 137 StPO. Die deutsche Strafprozessordnung unterscheidet zwischen Wahlverteidigung und dem Fall der notwendigen Verteidigung. Es gibt strafrechtliche Vorwürfe und Situationen wie Haftsachen, in denen die Strafprozessordnung nach dem bereits erwähnten § 140 StPO die zwingende Mitwirkung eines Rechtsanwalts oder einer Rechtsanwältin aus rechtsstaatlicher Fairness fordert. Und das eventuell auch gegen den Willen der beschuldigten Person. Sehr pauschal lässt sich sagen, dass bei Strafsachen, die in die Zuständigkeit des Einzelrichters am Amtsgerichts fallen, regelmäßig die Mitwirkung der Strafverteidigung nicht notwendig ist. In Haftsachen und bei schweren
Strafvorwürfen, die in die Zuständigkeit des amtsgerichtlichen Schöffengerichts oder Landgerichts fallen, und in weiteren strafrechtlich komplizierten Situationen ist nach § 140 StPO eine solche notwendig. Und das gilt bereits im staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren vor Anklageerhebung. Und das gilt dann besonders in der Situation der Vernehmung des oder der Beschuldigten durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder durch einen Richter. Bei einer Vernehmung als Beschuldigter oder Beschuldigte werden Sie über ihre Rechte belehrt.
§ 136 Abs. 1 StPO: „Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Möchte der Beschuldigte vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen, sind ihm Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auf bestehende anwaltliche Notdienste ist dabei hinzuweisen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und des § 142 Absatz 1 beantragen kann; zu Letzterem ist er dabei auf die Kostenfolge des § 465 hinzuweisen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.“
Das klingt kompliziert und ist es auch.
Blicken wir noch einmal auf die Entscheidung des BGH: Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 StPO vor. Wenn der Beschuldigte bereits einen Wahlverteidiger hat, sind die Erfordernisse der notwendigen Verteidigung erfüllt. Wenn der Beschuldigte in der Situation der polizeilichen Vernehmung noch keinen Strafverteidiger und noch keine Strafverteidigerin beauftragt hat, gelten im Fall der notwendigen Verteidigung die §§ 140, ff. StPO. Im Prinzip verlangt das Gesetz jetzt einen Antrag des oder der Beschuldigten zur Bestellung einer Pflichtverteidigung. Nur in den Ausnahmefällen nach § 141 Abs. 2 StPO bestellt der Staat eine solche von Amts wegen. Ein solcher Ausnahmefall ist gesetzlich der Umstand, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen kann. Eine solche Unfähigkeit bemisst der BGH sehr restriktiv nach der individuellen Schutzbedürftigkeit anhand der geistigen Fähigkeiten. Das ist sehr formalistisch. Und wer von Ihnen bis zu dieser Stelle gelesen hat, wird feststellen, dass das Recht, das Strafrecht und das Strafprozessrecht sprachlich und inhaltlich keine einfache Sache ist. Der BGH lässt mit dieser Entscheidung die Beschuldigten im Fall der notwendigen Verteidigung ziemlich allein. Er verlangt
von ihnen, die Bedeutung der erforderlichen Antragstellung eigenverantwortlich zu erkennen. Das ist sehr viel verlangt in der Situation einer polizeilichen Vernehmung angesichts eines schweren Tatvorwurfs. Diese Auslegung ist nicht fair und nicht zwingend.
Rechtspraxis: Wer als Beschuldigte oder Beschuldigte von der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder einem Richter vernommen wird, sollte nie ohne eine Strafverteidigern oder einen Strafverteidiger zu einer solchen Vernehmung gehen. Kontaktieren Sie rechtzeitig einen Strafverteidiger oder eine Strafverteidigerin. Und zwar unabhängig davon, was man Ihnen strafrechtlich vorwirft – Ladendiebstahl, „Schwarzfahren“, Körperverletzung, Verstöße im Straßenverkehr oder schwerere Delikte. Gehen Sie nie ohne anwaltlichen Beistand zu einer Vernehmung. Und: Wenn die Polizei Sie zu einer solchen Vernehmung als Beschuldigter „vorlädt“, müssen Sie nicht hingehen. Wirklich nicht! Als Beschuldigter oder Beschuldigte müssen Sie einer Ladung zur Vernehmung im Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft folgen = § 163a Abs. 3 StPO. Das gilt nicht für polizeiliche Vorladungen zur Beschuldigtenvernehmung = § 163a Abs. 4 StPO. Gehen Sie nicht ohne Anwalt oder Anwältin dorthin. Und wenn Sie doch einmal ohne anwaltlichen Beistand in einer Vernehmungssituation sind und nach § 136 StPO belehrt werden, dann bestehen Sie auf das Recht auf die Unterstützung durch einen Strafverteidiger oder eine Strafverteidigerin. Und stellen Sie den Antrag nach § 141 Abs. 1 StPO auf Pflichtverteidigerbestellung im Fall der notwendigen Verteidigung. Vertrauen Sie nicht auf die Hilfe durch die Polizei! Diese Rechte gewährt Ihnen der Rechtsstaat.
Für diesen Beistand sind wir alle für Sie da!