Bei einer Anklage wegen Beleidigung muss das Gericht in besonderem Maße die Meinungsfreiheit des Angeklagten berücksichtigten. Im Fall eines Sicherungsverwahrten, der eine Sozialarbeiterin als „Trulla“ beleidigte, ist dies nicht geschehen, weshalb das Bundesverfassungsgericht die Verurteilung aufhob.
BVerfG, Beschluss vom 19. August 2020, 1 BvR 2249/19: Das Amtsgericht Schwalmstadt hatte den Angeklagten wegen Beleidigung zu 15 Tagessätzen à 2 Euro verurteilt, dabei aber nicht ausreichend seine Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz berücksichtigt. Das Verfassungsgericht hob die Entscheidung auf und verwies sie zur erneuten Entscheidung zurück.
Der Sachverhalt: Der Angeklagte befindet sich in Sicherungsverwahrung, während derer er monatlich ein Taschengeld verbucht bekommt. Dies war im August 2016 jedoch nicht rechtzeitig geschehen, weshalb er Angst hatte, seine bestellten Lebensmittel nicht zu erhalten und auf die nächste Bestellmöglichkeit warten zu müssen. Er besuchte daher eine Sozialarbeiterin „im aufgeregten Zustand“ um ihr das Problem zu schildern. Als er das Gefühl hatte, mit seinem Anliegen nicht zur ihr durchzudringen, bezeichnete er sie im Rahmen eines Wortschwalls als „Trulla“.
Das Amtsgericht Schwalmstadt sah darin eine nach § 185 StGB strafbare Beleidigung. Zwar könne das Wort auch freundschaftlich-neckisch verwendet werden, jedoch sei dies aufgrund des Kontexts und des bedrohlichen, aggressiven Auftretens des Angeklagten auszuschließen gewesen. Somit habe die Äußerung ehrverletzenden Charakter und sei als Beleidigung zu werten. Die Berufung des Angeklagten wurde vom Landgericht Marburg als offensichtlich unbegründet verworfen.
Die Begründung hielt der Überprüfung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde des Angeklagten nicht stand. Es hatte zu prüfen, ob die Meinungsfreiheit des Angeklagten ausreichend berücksichtigt wurde.
Diese gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Insbesondere sind grundsätzlich sogar ehrschmälernde Meinungsäußerungen von Art. 5 des Grundgesetzes geschützt. Eine strafbare Beleidigung kann nur dann vorliegen, wenn im Einzelfall das Gewicht der persönlichen Ehre des Adressaten gegenüber der Meinungsfreiheit des Äußernden überwiegt. Entbehrlich ist eine solche Abwägung nur ausnahmsweise, wenn die Äußerung eine Schmähkritik darstellt, also „wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht“, so das Verfassungsgericht. Grundsätzlich dürfe Kritik aber auch „grundlos, pointiert, polemisch und überspitzt geäußert werden.“
Die Gerichte hätten jedoch weder eine Abwägung zwischen persönlicher Ehre und Meinungsfreiheit vorgenommen noch nachvollziehbar dargelegt, dass es sich um Schmähkritik handle, urteilte das Bundesverfassungsgericht. Vor allem stellte es dabei auf den Kontext der Bezeichnung als „Trulla“ ab: Der Angeklagte besuchte die Sozialarbeiterin im aufgeregten Zustand, denn er befürchtete, dass er aufgrund des Buchungsfehlers — wie schon in der Vergangenheit geschehen — die bestellten Lebensmittel nicht erhalten würde. Vor diesem Hintergrund sei die Aussage noch Teil einer sach- und anlassbezogenen Auseinandersetzung. Sie sei „Ausdruck einer – wenngleich nicht vollständig gelungenen – emotionalen Verarbeitung der als unmittelbar belastend wahrgenommenen Situation.“
Das Urteil wurde deshalb aufgehoben, das Amtsgericht muss nun erneut über die mögliche Beleidigung entscheiden und dabei die vom Bundesverfassungsgericht verlangte Abwägung durchführen. Der Fall zeigt, wie sehr das Grundrecht auf Meinungsfreiheit auch im Strafrecht relevant ist, und wie insoweit Wertungsspielräume bestehen. Es ist auch Aufgabe einer effektiven Strafverteidigung, dem Gericht darzulegen, welche Umstände im Einzelfall für die Meinungsfreiheit des Mandanten streiten.